Alice Sara Ott im Interview

Ich könnte Mussorgsky dreihundert Mal spielen

Die Berliner Pianistin Alice Sara Ott Die Berliner Pianistin Alice Sara Ott

Berlin-av: Alice, herzlichen Dank, dass Du uns für das Interview zugesagt hast.

Alice Sara Ott: Ich freue mich.

Berlin-av: Wir möchten mal etwas in Deiner Kindheit stöbern und wissen, wann Dein erster Kontakt mit dem Instrument Klavier war.

Alice Sara Ott: Mein erster Kontakt war als Baby, denn wir hatten ein Klavier zuhause. Aber das erste bewusste Erlebnis war mit drei Jahren, als meine Eltern mich mit zu einem Konzert nahmen. Ich war so begeistert von der Musik, dass ich das selber machen wollte. Dann habe ich meiner Mutter gesagt, dass ich unbedingt Pianistin werden wollte. Sie wollte das zuerst nicht. Wir haben ein Jahr gestritten, dann habe ich meinen ersten Klavierunterricht bekommen.

Berlin-av: Sie war tatsächlich dagegen?

Alice Sara Ott: Sie wollte, dass ihre Kinder „normal“ werden. Sie war selber Musikerin und kannte auch die Nachteile und meinen Charakter. Sie wollte einfach, dass Kindern alle Türen offenstehen und ihnen alle Möglichkeiten gegeben sind. Sie wollte nicht, dass wir elternbedingt, wir bedeutet meine Schwester und ich, sie ist auch Pianistin, einen Beruf wählen.

Berlin-av: Und dann hast Du den üblichen Werdegang genommen? Wettbewerbe?

Alice Sara Ott: Ich habe als kleines Kind an einigen Wettbewerben teilgenommen aber einfach nur deswegen, weil ich erst einmal ein Repertoire erarbeiten konnte. Dann war es eine tolle Möglichkeit, vor Menschen zu spielen. Als ich dann so siebzehn Jahre wurde, haben mein Lehrer und ich ein längeres Gespräch gehabt und ich entschied mich, nicht diesen Weg zu gehen und mich auf mein Repertoire zu konzentrieren.

Berlin-av: Eine Frage nach den prägendsten Begegnungen in Deiner Karriere?

Alice Sara Ott: (zögert)

Berlin-av: Erst einmal Salzburg?

Alice Sara Ott : Ja, Salzburg auf jeden Fall. Das Treffen mit Prof. Kämmerling war eines der prägendsten Erlebnisse meines Lebens. Ich habe acht Jahre mit ihm studiert, er hat mich in der wichtigsten Zeit geprägt. In einer Zeit, wo man sich nicht nur körperlich, sondern auch als Mensch entwickelt. Da war er sehr präsent gewesen. Eigentlich war jede musikalische Begegnung wichtig. Ich könnte nicht eine herausarbeiten. Die Begegnung mit dem Manager ist natürlich auch wichtig. Bei den Musikern kann ich es nicht auf ein oder zwei Menschen reduzieren. Jede einzelne Begegnung ist sehr speziell und intim, besonders und prägend.

Alice Sara Ott spielt gerne barfuß

aliceBerlin-av: Ein Sprung zum Konzert. Ich frage mich als Laie, wo holt man als Künstlerin die Kraft für die Konzerte her und wie entspannst Du Dich? Wie kommst Du wieder runter?

Alice Sara Ott: Die Kraft nehme ich von meinem Umfeld, dem Publikum, Familie, Freunde und natürlich die Musik selbst. Das alles gibt mir genug Motivation und Inspiration. Mir ist der

Moment, in dem ich die Hoteltür hinter mir schließe sehr wichtig. Es ist der Moment, wo ich zu mir selbst komme, die ganze Euphorie vom Konzert weg ist. Da bin ich nur ich selbst, mit allen meinen Macken und Stärken.

Berlin-av: Du spielst gerne barfuß?

Alice Sara Ott: Ja ich spiele gerne barfuß.

Berlin-av: Ja, sorry, das ist natürlich keine „Macke“. Das kommt aber glaube ich gut an, wenn man sich so die Kommentare ansieht.

Alice Sara Ott: Ich weiß gar nicht wie das aufgenommen wird. Kommentare lesen ist nicht mein Ding. Das ich barfuß spiele, hat jedenfalls keinen kommerziellen Hintergrund.

Berlin-av: Hätte ich jetzt auch nicht vermutet.

Alice Sara Ott: Könnte aber gut sein. Ich habe mal vor drei Jahren auf einem alten Instrument in Erfurt gespielt auf dem auch schon Liszt gespielt hat und ich trug immer gerne High Heels und merkte, dass ich meine Knie nicht unter das Instrument bekam. Da hatte ich keine andere Wahl, als meine Schuhe auszuziehen. Ich hatte keine anderen Schuhe mit. Deswegen spielte ich barfuß. Ich habe mich sehr wohl damit gefühlt. Zuhause laufe ich auch gerne so herum, versuche oft Schuhe zu vermeiden. Ich dachte, warum also nicht auf der Bühne? Das wichtigste ist, sich wohlzufühlen. Generell im Konzertsaal. Ich würde mich sogar freuen, wenn das Publikum auch barfuß käme. Mich würde es nicht stören. Ich dachte, ich trage sowieso ein langes Kleid und es fällt nicht jedem auf. So kam es dazu.

Die wahre Herausforderung

Berlin-av: Erkläre doch bitte einem musikalisch völlig talentfreien Menschen wie mir, wie man es schafft, komplette Stücke ohne Noten auswendig zu spielen?

Alice Sara Ott: Ich glaube, es ist wie beim Schauspieler, das verinnerlicht man automatisch. Es sieht immer total schwer aus, ist es aber letztendlich gar nicht. Die wahre Herausforderung sind nicht die Noten, sondern die Musik wirklich so zu interpretieren, dass es überzeugend ist und Komponistengetreu. Das kommt also einfach mit der Zeit. Ich hab mir eigentlich auch noch nie darüber Gedanken gemacht. Jeder hat seine eigene Methode, Sachen auswendig zu lernen. aber das ist wirklich nicht das Schwerste.

Berlin-av: Ich finde es faszinierend. Lass mir bitte noch so ein kleines Geheimnis darum.

Alice Sara Ott: (lacht) Es ist wirklich wie beim Schauspieler. Wenn man die fragt, sagen sie sicher dasselbe.

Berlin-av: Kommen wir auf Dein fünftes Album zu sprechen, Mussorgsky und Schubert sind darauf zu hören. Es heißt „Pictures“ und wurde live aufgenommen in St. Petersburg, vor russischem Publikum. Stelle ich mir nicht einfach vor. Wie näherst Du Dich so einem Werk?

Alice Sara Ott: Wir sprechen jetzt über Mussorgsky?

Berlin-av: Ja

Alice Sara Ott: Mit Mussorgsky verbinde ich eigentlich eine lange Beziehung. Als ich in die Klasse von Prof. Kämmerling kam, war ich zwölf Jahre alt. Damals waren sehr viele russische Studenten bei ihm. Alle spielten dieses Stück. Ich war fasziniert davon, wie verschieden sie es interpretierten und wie sie hinterher darüber heiß diskutierten. Ich wollte immer Teil dieser Diskussion sein. Ich dachte, da steckt so viel mehr dahinter. Ich nahm mir vor, dass ich eines Tages dieses Stück lernen würde und selber meine Meinung dazu abgeben kann. Es ist ein Stück, das nicht nur ein harmloser Spaziergang durch eine Bildergalerie ist, da steht so viel politisches Zeitgeschehen dahinter, Gedanken und Bedenken der Musiker damals, die sie hatten und nicht aussprechen durften. Ich muss sagen, es ist ein Stück, das viel visueller als Musik ist, als die Originalsketches von Viktor Hartmann. Ich glaube, ich könnte es zwei- oder dreihundert Mal spielen und mich jedes Mal wieder darin verlieben. Es macht einfach sehr viel Spaß, das Stück zu spielen. Ich entdecke immer wieder neue Facetten und Charakterzüge. Es ist nicht ohne Grund von Musikern aus anderen Genres aufgegriffen worden.

Berlin-av: Wie viel Freiheit hat man als Künstler bei der Interpretation?

Alice Sara Ott: Man hat alle Freiheiten der Welt. Ich glaube, die Kritiker melden sich so oder so. Ich finde ein Künstler.., wenn man als Künstler nur gute Kritiken bekommt oder nur schlechte Kritiken, ich weiß nicht ob das schön ist. Ich glaube, wenn es verschiedene Meinungen über einen gibt, das zeigt doch, dass man wahrgenommen wird. Das man ernst genommen wird. Es gibt nur eine Wahrheit für mich in der Musik. Aber es gibt viele Wege, sie zu formulieren diese Wahrheit. Deswegen haben wir alle Freiheiten! Es ist eine Frage des Geschmacks.

Berlin-av: Musik ist eine Kunstform!

Alice Sara Ott: Definitiv! Viel mehr …

Berlin-av: Zum Schluss die Frage nach der Schönheit. Findest Du sie manchmal hinderlich? Es fing an mit Vanessa Mae. Sie stand so im zarten Kleid im Wasser mit Ihrer Violine …Du weißt, was ich meine…

Alice Sara Ott: Schönheit, wenn nur äußerlich, ist auf jeden Fall ein Hindernis, sie ist nämlich vergänglich. Das ist es nicht, worum es in der Musik geht.

Berlin-av: Punkt!

Alice Sara Ott: (lacht) Wir können uns da noch weiter hinein vertiefen …

Berlin-av: Noch eine Frage zum Kulturkreis Deutschland und zum Kulturkreis Japan. Du hast ja deutsch-japanische Eltern. Wie weit bis Du im japanischen Kulturkreis zuhause?

Alice Sara Ott: Das ist eine schwierige Frage. Ich habe nie in Japan gelebt. Ich bin in München geboren und aufgewachsen. Ich habe sehr viel Zeit in Japan verbracht in den letzten Jahren aber ich fühle mich fremd in Deutschland und ich fühle mich fremd in Japan. Das wird immer so bleiben. Deswegen habe ich mir auch die Musik ausgesucht. Sie ist eine Sprache, in der die Hautfarbe, die Religion, Nationalität und Mentalität keine Rolle spielt. Es ist für mich schon sehr wichtig, mit den Grundsteinen der beiden Kulturen in Kontakt zu kommen. Ich glaube, dass hilft mir dabei, meine eigene Identität zu finden. Ich glaube letztendlich hängt es davon ab, was man selber daraus macht.

Berlin-av: Sprichst Du Japanisch?

Alice Sara Ott: Ja, ich bin zweisprachig aufgewachsen.

Berlin-av: Wir bedanken und ganz herzlich für das Interview und wünschen Dir weiter viel, viel Erfolg!

Alice Sara Ott: Vielen Dank.

Wir haben das Interview am 07. Mai 2013 im Berliner Hotel Ellington geführt.

Zur Website der Künstlerin

Trailer Album „Pictures“