„Das fremde Meer“

Katharina Hartwell - Das fremde Meer Katharina Hartwell - Das fremde Meer

Die Protagonistin Marie ist ein ganz besonderer Mensch. Sie schildert sich in ihrer Kindheit als abenteuerlustig, phantasievoll aber auch als zutiefst ängstlich und depressiv. „Marie gehört zu den Menschen, die glauben, dass Katastrophen nur die treffen, die nicht auf sie vorbereitet sind“.

Als Kind verkraftet Marie nur schwer einen von der Mutter angeordneten Ortswechsel, sie wird zum gehänselten Kind, dessen Ängste immer größer werden. Ihre besten Freunde in schwerer Zeit existieren nur in ihrer Fantasie. Trennungen und Todesfälle verstärken Maries Ängste vor schlimmen Ereignissen immer noch weiter. Sie wird depressiv und rechnet während des Studiums mit einem großen Zusammenbruch. Und genau an diesem Punkt in ihrem Leben begegnet Marie ihre große Liebe. Über diese Liebe erfahren wir erst einmal nichts näheres. Stattdessen kündigt Marie Geschichten und eine lange Reise an. Zwischen den Zeilen ahnt man an dieser Stelle bei genauem Hinsehen eigentlich schon, warum diese neun Geschichten folgen. In der zehnten und letzten Geschichte, angelegt in der Gegenwart, erfahren wir endlich alles darüber, wie Marie Ihrer großen Liebe Jan begegnete und was für ein Mensch Jan ist. Er fällt Marie buchstäblich eines Tages vor die Füße.

Doch zuerst lesen wir neun Geschichten, die literarisch gesehen ihresgleichen suchen. Etwa die Geschichte von der Wechselstadt, in der Häuser mit den Menschen darin durch die Stadt wandern, unter Umständen an ihren angestammten Plätzen gar nicht mehr auftauchen. Oder die Geschichte von der gelangweilten Prinzessin, die Ritter wird und einen Prinzen aus dem düsteren Winterwald retten möchte. Oder die Geschichte von der Nachtstadt, wo die Einwohner durch geheimnisvolle dunkle Wolken immer kranker werden und auserwählte Kranke durch einen mehrwöchigen Aufenthalt in einem über den Wolken im Licht ankernden Luftschiff geheilt werden können. Diese Geschichten sind Märchen oder Fantasiegeschichten, aber immer von einer umwerfenden Erzählweise geprägt, die einen von Anfang an in diesen Debütroman Katharina Hartwells hineinziehen. Die Geschichten weisen verbindende Elemente auf, sind eher düster und welche Bedeutung sie haben, versteht man bis zum traurigen Ende des großartigen Romans noch nicht.

Ich möchte an dieser Stelle nicht den Schluss des Buches verraten. Im Klappentext wird gefragt, ob Marie und ihre Geschichten dem Schicksal etwas entgegenzusetzen haben? Niemand weiß, ob die Literatur ein Leben retten kann. Aber Marie versucht es, schreibt quasi um ihr/ein Leben. Versucht, das Unfassbare zu verarbeiten, schaut in die Abgründe des Lebens, die jeden ganz schnell verschlingen können. Bemerkenswert ist, dass ich nach Elisabeth Rank und ihrem Roman „Bist Du noch wach“ erneut einer jungen Autorin begegne, die einen in ihrer wunderbaren poetischen Art zu Schreiben zu Tränen rührt. Wow! (be)

Katharina Hartwell ist 1984 in Köln geboren, studierte in Frankfurt a.M. mit Auszeichnung Anglistik und Amerikanistik. Seit 2010 studiert sie am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. Im Jahr 2010 erschien ein Band mit Erzählungen von ihr unter dem Titel: „Im Eisluftballon“.

Das Fremde Meer – Katharina Hartwell – berlin Verlag
22,99 € [D] | 23,70 € [A] Roman – 576 Seiten – ISBN-13: 9783827011374